Bescheidenheit ist (k)eine Zier
Sehr viel Zeit und Energie wird aktuell auf die Frage verwendet, welche Kleidung für Frauen angemessen ist. Im englischen Sprachraum fällt in diesem Zusammenhang früher oder später das englische Wort „modesty“. Übersetzen lässt es sich mit Bescheidenheit oder aber auch mit Sittsamkeit oder Anstand. All diese Begriffe sind weit davon entfernt, typisch muslimisch zu sein, auch wenn heutige Diskussionen um Frauenkleidung meist auf muslimische Frauen zielen.
Schon vor rund hundert Jahren wurde in Deutschland ein Spruch fürs Poesiealbum beliebt, den einige vielleicht noch kennen:
„Sei wie das Veilchen im Moose,
bescheiden, sittsam und rein,
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.“
Die Vorstellung, dass eine Frau zurückhaltend und unauffällig bis zum Verschwinden aus der Öffentlichkeit sein soll, deckte sich also prächtig mit damaligen gesellschaftlichen Vorstellungen. Dabei weiß der Volksmund auch zu berichten: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ Lange hat es gedauert, bis diese Erkenntnis auch für Frauen gesellschaftsfähig wurde. Erst die Frauenbewegung in den 1970er Jahren sorgte dafür, dass mehr Frauen aus dem viktorianischen Gedankenkorsett ausbrachen und ihre eigenen Wege gingen.
Bescheidenheit, Anstand, Sitte: Was genau ist damit gemeint und inwiefern sind sie im Jahr 2016 erstrebenswert? Niemand weiß es wirklich und doch ist „züchtige Kleidung“ in vieler Munde. Zu vieler Munde.
Gemeint ist mit „züchtiger Kleidung“ je nach religiöser oder ideologischer Ausrichtung Frauenkleidung, die den Körper eher mehr als weniger bedeckt. Der Wunsch nach bedeckender Kleidung ist nicht auf Muslimas beschränkt. Auch christliche und jüdische Frauen mit entsprechendem Weltbild legen Wert auf die weitgehende Bedeckung des Körpers. In den USA hat sich längst eine eigene Industrie um dieses modische Bedürfnis gebildet. Unter dem Stichwort „modest clothing“ sind lange Röcke, knielange Badebekleidung und Sonntagskleider für den Kirchgang zu haben, um nur einige Beispiele zu nennen. Im deutschen Sprachraum findet man unter dem Stichwort „bedeckende Kleidung“ hauptsächlich Kleidung für muslimische Frauen, die den gesamten Körper und die Haare verhüllen wollen.
Vielleicht meinen Menschen, die sich sehr viele Gedanken um die Bedeckung des menschlichen Körpers machen, dass Schamgefühl gleichbedeutend mit Anstand ist und in direktem Zusammenhang mit der Menge an Kleidung steht, die den Körper verhüllt. Dass das nicht zwangsläufig so ist, zeigte schon der Kulturhistoriker Max von Boehn vor rund einem Jahrhundert in seinem oft aufgelegten Buch Bekleidungskunst und Mode*. Ein Ausschnitt aus dem Buch verbirgt sich hinter diesem Link: Verhüllung oder Entblößung.
In der aktuellen Debatte um die Kleidung von Frauen werden viele Argumentationen religiöser, politischer oder gesellschaftlicher Art bemüht. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hinter der Frage nach der Saumlänge ganz andere Konflikte verbergen.
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Redaktion
Der Trend zu sogenannter züchtiger Kleidung für Frauen hält an. Man mag zu Kleidervorschriften für Frauen sehr geteilter Meinung sein, wirtschaftlich gesehen ist das ein Markt, mit dem sich viel Geld machen lässt, s. z. B.: https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/nichts-fuer-schlampen/story/20093207
Verena
“Auch christliche und jüdische Frauen mit entsprechendem Weltbild legen Wert auf die weitgehende Bedeckung des Körpers.”
Im orthodoxen Judentum tragen Frauen sogar häufig Kopftücher.
https://en.wikipedia.org/wiki/Tichel
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