Ein Brief von Annemarie Schimmel

Beim Aufräumen fielen mir neulich alte Unterlagen aus den Anfängen der Kandil-Ramadankalender in die Hände. Ich gestehe, dass ich in all den turbulenten Jahren, die auf den Launch der ersten mit Schokolade gefüllten Ramadankalender im Oktober 2000 folgten, ganz vergessen hatte, dass ich damals an Professor Dr. Dr. Schimmel geschrieben hatte. 

Persönlich kannte ich sie nicht und umso geehrter fühlte und fühle ich mich, dass sie, die damals fast 80 Jahre alt und als Islamwissenschaftlerin und Autorin vieler erfolgreicher Bücher weltberühmt war, sich tatsächlich die Zeit nahm, auf meinen Brief zu antworten. Ich fühle mich reich beschenkt und geehrt durch ihre Aufmerksamkeit zu einer Zeit, als sie eigentlich im Ruhestand und doch so wach, reiselustig und beschäftigt war wie eh und je.

Der Brief ist ein wertvolles Zeitdokument – und ein Beweis, dass auch Anfang des neuen Jahrtausends noch Briefe auf der Schreibmaschine getippt wurden.

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60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen

  Ein Beitrag von Zahide Rashed

DIE STIMME DER DEUTSCHLÄNDER

Erste Generation

Man nennt uns Almancı, die Deutschländer,
Generation Nummer 1, die Gastarbeiter.
Tauchen auf mit einem Opel oder Ford,
In der Heimat im Sommerurlaub dort.
Sonnenbrille auf der Nase, in der Tasche die D-Mark,
Ziehen eine Show ab, fühlen uns so stark.
Haben es verdient, hart ist die Arbeit,
Steckt noch in den Knochen die Müdigkeit.
Devisen ins Land zu bringen, eines unserer Ziele,
Nehmen Vorurteile in Kauf, davon gibt es viele.
Momente gibt´s, da reicht´s, Ausländer zu sein,
Gönnt uns das Gefühl eines Königs zum Schein.
Schaut auf uns nicht herab, das ist nicht fair,
Auch wenn wir gegangen sind, gehören wir hierher.
Ihr sagt: Wir sind verschlossen und rückwärtsgewandt
Und taugten für euch nicht als Repräsentant.
Was man auch sagt, Türkei-Stämmige bleiben wir.
Dies ist eine Tatsache, ob dort oder hier.

20, 30, 40, 50, sogar 60 Jahre sind es her,
Dass wir die Heimat verlassen und gekommen hierher.
Die Sehnsucht nach der Heimat ist groß.
Die Zeit vergeht schnell, das ist ein Trost.
Ziel ist, Geld zu verdienen, um rasch zurückzukehren.
Dafür gilt es, sich den Luxus zu verwehren.
Auch im Sonderangebot ist die Ware schick,
Musst nicht sein eine teure Boutique.
Vergnügen und verwöhnen kannst du dich später.
Die Träume bleiben wach, auch wenn altert der Körper.

Kamen als Gastarbeiter für zwei Jahre oder etwas mehr,
Hielten die Sehnsucht nicht aus, holten die Familie hierher.
Mit der größeren Wohnung stieg die Miete an Preis,
Schule fing an und es schloss sich der Kreis.
Vergangen war die Zeit, Geld beiseite zu legen
Teurer wurde in Deutschland das Leben
Jahre sind vergangen: 20, 30, 40, 50, 60 sogar,
Hängengeblieben in Deutschland, das wurde spät erst klar

„Türken beuten den Sozialstaat aus“ – wie kann das sein,
Wenn sie sich für Extraarbeit nicht sind zu fein?
Zu Wahlzeiten geeignet für Propaganda, ist schon krass.
1999 lief eine Kampagne gegen den Doppelpass.

Wir, die ersten, die kamen als Migrant,
Wurden „Kümmel-“ oder „Knoblauchtürke“ genannt.
Taten so, als hätte es uns nicht gestört,
Haben Zwiebeln und Knoblauch zu essen aufgehört.
Man sprach einfaches Deutsch, einem Kind vergleichbar,
So wurden wir erniedrigt, nahmen sie es nicht wahr?

Doch unser Auskommen ist hier, seien wir fair.
Nachteile gibt es, doch Vorteile viel mehr.
Wirst in diesem Land belohnt, wenn du arbeitest fleißig.
Willi zeigt uns den Weg, wenn Hans auf uns herabsieht.
Hilde hilft uns, wenn Gabi grob zu uns war,
unser Beitrag in der Gesellschaft ist den meisten klar.

Als wir Ersten kamen aus der Türkei hierher,
War unser fester Plan die frühe Rückkehr.
Der Traum wurde nicht wahr, so ist es eben.
Wenigstens können einige die Rente hier erleben
Wieder sind wir zwischen der Türkei und Deutschland.
Unsere Priorität ist die Türkei, wie auch am Anfang.

DIE SPÄTEREN GENERATIONEN

Doch die zweite, dritte, die vierte Generation sogar,
Für sie stellt Deutschland den Mittelpunkt dar.
Wo sie geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen,
Freundschaften geknüpft, im Arbeitsalltag gefangen.
Familien nehmen teil am kulturellen Leben
Sport, Musik und wonach sie sonst streben.

Sie gehören hierher, hier ist ihr Heim,
Es laut zu sagen, muss das noch sein?
Ausgrenzung zu erleben oder Diskriminierung
Weil der Name anders ist oder die Erscheinung.
Gute Kompetenzen, sogar höher qualifiziert
Zählt nicht immer, wenn die Form irritiert.

Ja, Rassismus ist ein Problem überall, nicht nur im Lande
Hat sich etabliert im Parlament, was für eine Schande.
Von Hass getrieben, Rassismus kennt kein Gewissen,
So wurden junge Menschen aus dem Leben gerissen.
2020 in Hanau war es, am zwanzigsten Februar,
Zahlreiche gingen auf die Straße, sahen die Gefahr.

Die zweite Generation und die folgten später
Stehen anders da als ihre Mütter und Väter;
Haben Pflichten und Rechte, volle Bürger eben;
Akzeptieren kein Unrecht, möchten würdevoll leben.
Denn sie sind keine Fremde, gehören hierher,
Sie sind Deutsche, nicht weniger und nicht mehr.
Haben Erfolg erzielt, nicht in einem Bereich nur,
Politik, Gesundheit, Wirtschaft und Kultur.
Der Menschheit gedient mit ihrer Forschung in der Biochemie
Hat das Uğur/Türeci-Paar mit dem Impfstoff gegen die Pandemie.

Nicht nur in der Medizin sind Leute aufgestiegen,
Haben sich einen Namen gemacht auch in anderen Gebieten.
Zahlreiche Türkeistämmige sind in Führung,
Ebenso sorgen sie für kulturelle Bereicherung.
Sucuk oder pastırma kennt fast jeder,
Bekannt nicht nur in Deutschland ist Döner.
Unternehmer*Innen leisten ihren Beitrag zur Wirtschaft,
Frisör, Schneider und andere dienen der Gesellschaft.

Und die TÜRKEI? Was bedeutet sie uns noch?
Egal wie der Standpunkt, wichtig ist sie doch;
Sind wie eine Brücke dorthin die Familien
Und unsere Wurzeln, die uns stabilisieren.
Türkei ist auch Heimat, nicht nur Urlaubsland bloß.
Auch unser Wert für die Wirtschaft dort ist groß.

Mag unser Türkisch anders sein, der Auftritt „deutschländisch“,
Sind leicht reinzulegen, ist das nicht unmoralisch?
Sagt „Almancı“ zu uns, doch ohne abwertenden Unterton.
Jedem gebührt ein Umgang mit Achtung und ohne Hohn.
Macht müde auf Dauer, sich ständig zu definieren;
Alles Mögliche zu erklären kann ganz schön frustrieren.

Weder nur Türke noch nur Deutsch – eine Mischung vielmehr,
Das Neue aus dieser Synthese ist variabel sehr
Beides heißt nicht zweifach, es gibt Zusätze und Lücken,
Unsere Ganzheit besteht nicht aus vollen Stücken.
Mehrstaatlichkeit schafft Unterschiede, nicht alles ist eindeutig,
Der Blickwinkel ändert sich auf Manches im Leben häufig.
Unser Status ist anders, nicht niedrig das Niveau.
Wertschätzung als Mensch verdienen wir alle, egal wo.
Auch Almancı sind nicht alle gleich und austauschbar
Individualität zeigt sich bei jeder und jedem, fürwahr.

Diversität ist eine Quelle für neue Anregungen,
Wenn Vorurteile nicht hemmen die Begegnungen
Im anderen zu sehen einen Gegner oder Feind,
Ist für keinen von Vorteil, auch wenn es so scheint
Wohlgesinnt zu sein, zusammenzuhalten ist heilsam,
Um die Probleme unserer Welt anzugehen gemeinsam.

„Almancı“, „Deutsch-Türken“, „Türkei-stämmige Deutsche“ – wie auch immer man uns nennt,
Ob zur Türkei, Deutschland oder zu beiden Ländern gehörend – wir sind auf dieser Erde Mensch.

Frankfurt am Main, 30.07.2021 Zahide Özkan-Rashed

< Anwerbeabkommen zwischen BRD und TR

Das Gedicht zum 60-Jährigen des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in türkischer Sprache:

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Das Wandern

Das Wandern

Wandern, das längere Gehen in der Natur, ist für die einen ein beliebter Zeitvertreib, für die anderen ein verstaubtes Wort mit einem ebensolchen Image, für andere ist es schlicht unbekanntes Terrain. Ja, es gibt tatsächlich Sprachen, in denen es nicht nur keine Lieder nach Art von Das Wandern ist des Müllers Lust gibt, sondern in denen es nicht einmal ein Wort für Wandern gibt. In der arabischen Sprache zum Beispiel fehlt das Verb wandern. Man geht (spazieren), man läuft oder rennt, man klettert. Aber wandern?

Der aus dem Irak stammende und in der Schweiz lebende Schriftsteller Usama Al Shahmani, der seit 2002 in der Schweiz lebt und inzwischen als Kulturvermittler und Übersetzer arbeitet, erzählt in seinem Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch*, wie es ihm gelingt, den Bogen vom Wandern in der Natur zum Ankommen in einer neuen Heimat zu schlagen, ja einen Heimatbegriff zu formen. Dies alles beschreibt er vor dem tragischen Schicksal seines Bruders Ali im Irak. Ankommen, sich eine Heimat schaffen mithilfe von Bewegung und Natur – und Sprache natürlich, zum Brückenbauer zwischen den Kulturen werden trotz schwierigster Umstände. In seinem lesenswerten Roman zeichnet Al Shahmani nach, wie schwierig und gewunden dieser Weg ist.

Al Shahmani ist 1971 geboren. Wir stellen ihn in der Rubrik Young Kandil vor, weil er sich auch für junge Menschen in ähnlicher Situation engagiert. Im Projekt Schreibinsel der interkulturellen Bibliotheken in der Schweiz (interbiblio) zum Beispiel begleitete er als Schreibcoach Jugendliche in einem Integrationsprojekt. Weitere interkulturelle Schreibprojekte schweben ihm vor.

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